Thangka: Ein auf Stoff gewebtes Universum

In tibetischen Tempeln und vor buddhistischen Schreinen in tibetischen Häusern sieht man immer wieder diese farbenfrohen Rollbilder – Thangkas. Sie hängen entweder in der Heiligenhalle, werden in der Dharma-Versammlung ausgestellt oder in einer Schatulle aufbewahrt. Sie sind eine der einzigartigsten Ausdrucksformen der tibetisch-buddhistischen Kunst. Thangkas, was auf Tibetisch „flach und breit“ bedeutet, sind eine einzigartige religiöse Malkunst in der tibetischen Kultur. Sie sind nicht nur ein Gemälde, sondern auch eine konzentrierte Betrachtung des Universums, eine spirituelle Praxis und eine seit Jahrtausenden überlieferte Fertigkeit.

Der Herstellungsprozess eines Thangkas ist eine Art Übung. Von der Stoffauswahl, dem Spannen des Rahmens und Polieren bis hin zum Entwurf, Kolorieren, Umreißen und Öffnen der Augen folgt jeder Schritt streng den alten Ritualen. Die von den Malern verwendeten Pigmente werden alle aus natürlichen Mineralien und Pflanzen gewonnen: das Rot des Zinnobers, das Grün des Malachits, die Brillanz von Blattgold und die Tiefe von Lapislazuli. Diese Pigmente werden zu Pulver gemahlen und mit Yakgalle und Leim vermischt. Nach Hunderten von Jahren leuchten sie immer noch so leuchtend wie zuvor. Das Malen eines Thangkas dauert oft Monate oder sogar Jahre. Der Maler muss seinen Geist rein halten und sogar täglich vor dem Malen Sutras rezitieren und beten. Diese kreative Methode, die Kunst und Praxis vereint, ist in der Geschichte der Weltkunst selten.

Aus kultureller Sicht ist ein Thangka eine Enzyklopädie des tibetischen Buddhismus. Ein Thangka kann eine buddhistische Geschichte, eine Reihe von Übungsmethoden, ein Mandala-Universum oder sogar einen medizinischen Atlas darstellen. Zu den häufigsten Themen zählen Buddha-Statuen, Gottheiten, Wächter, buddhistische Geschichten, Mandalas usw. In den Augen der Tibeter ist ein Thangka kein einfaches Kunstwerk, sondern eine Inkarnation Buddhas mit heiliger Kraft. Sobald ein Thangka von einem Mönch geweiht wird, wird es zum Gegenstand der Anbetung der Gläubigen. Die Gestaltung eines Thangkas folgt streng den Vorgaben des „Sutra über die Messung von Statuen“. Proportionen, Körperhaltungen und Instrumente von Buddha-Statuen unterliegen präzisen Maßangaben. Diese standardisierte Ausdrucksform gewährleistet die korrekte Vermittlung der buddhistischen Lehren.

Das Erstaunlichste an der Thangka-Kunst ist ihre Fähigkeit, abstrakte Lehren zu konkretisieren. Ein Beispiel hierfür ist das Mandala-Thangka. Es verwendet geometrische Formen und symbolische Symbole, um ein vollständiges kosmisches Modell zu konstruieren: Der Buddha im Zentrum steht für Erleuchtung, die umgebenden Paläste symbolisieren das reine buddhistische Königreich und die Flammen im äußeren Kreis repräsentieren das Brennen der Weisheit. Gläubige meditieren, indem sie das Mandala betrachten, und erreichen schließlich den Zustand „Der Geist ist der Buddha“. Jedes Detail des Thangkas – von den Juwelen der Buddha-Krone bis zu den Blütenblättern der Lotusblume, vom Gekräusel des Wolkenmusters bis zum Faltenwurf der Kleidung – enthält tiefgründige buddhistische Philosophie. Diese Fähigkeit, philosophisches Denken in visuelle Symbole zu verwandeln, zeigt die erstaunliche Weisheit tibetischer Künstler.

In der heutigen Gesellschaft erlebt Thangka einen Konflikt zwischen Tradition und Moderne. Einerseits wird es weltweit als immaterielles Kulturerbe anerkannt, und immer mehr Thangka-Ausstellungen finden international statt; andererseits beeinträchtigt die Kommerzialisierung auch die Authentizität dieser alten Kunst. Erfreulicherweise halten viele Maler noch immer an der Tradition fest. Sie wissen, dass Thangka kein gewöhnliches Produkt, sondern der genetische Code der tibetischen Kultur ist. In der Thangka-Malakademie in Lhasa und der Heimat der Rekong-Kunst in Qinghai sitzen junge Lehrlinge noch immer im Schneidersitz, kopieren Strich für Strich alte Muster und geben so diesen „sichtbaren Buddhismus“ weiter.

Beim Betrachten eines wunderschönen Thangkas glaubt man, den Gesang zwischen den Farben fließen zu hören und den Glauben in den Linien zu spüren. Es ist nicht nur eine Dekoration an der Wand, sondern eine Projektion der jahrtausendealten spirituellen Welt des tibetischen Volkes. In dieser Projektion sehen wir das menschliche Streben nach Ewigkeit, die Sehnsucht nach Schönheit und das Nachdenken über den Sinn des Lebens. Thangka-Kunst lehrt uns: Wahre Kunst war schon immer eine spirituelle Praxis jenseits der Ästhetik; große Traditionen bewahren stets die Reinheit ihrer Seele in der Innovation.

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